Für Jürgens Trauerfeier 

Jürgen Heuer (1952-2024)

 

Jürgen war mein Bruder, aber er war auch jemand, den ich immer nur aus einiger Entfernung mitbekommen habe: aus zeitlicher Entfernung, wegen es Altersunterschieds; und aus räumlicher, weil wir seit mehr als 40 Jahren nicht mehr in derselben Gegend gelebt haben. In der Vorbereitung für diesen Anlass ist mir selbst manches erst klarer geworden oder zumindest in der Erinnerung zurückgekommen. Erst nach seinem Tod fange ich an, meinen Bruder besser zu verstehen. 

Kindheit und Angst. Jürgen war ein schüchterner, ein wenig einsamer Junge, glaube ich – so sieht er jedenfalls auf Fotos aus seiner Kindheit aus, und auch die Erzählungen in der Familie bestätigen das. In ein paar tagebuchartigen Aufzeichnungen, die ich gefunden habe, beschreibt er Angst, viele verschiedene Ängste, als die Leitmotive seines Lebens. Das zu lesen hat mich traurig gemacht, aber auch sehr beeindruckt. Es hat gezeigt, dass er sich selbst sehr viel besser verstanden hat als ich geglaubt hatte, und dass er fähig war, einen ehrlichen und kritischen Blick auf sich selbst zu haben – was ja immer das Schwerste ist.

Man muss keine Psychologin sein, um zu wissen, dass Ängste oft zu defensivem Verhalten führen. Jürgen hat vieles abgewehrt und manchmal auch abgewertet, auf eine Art, die es einem schwer machen konnte, ihm näher zu kommen. Das war mein schwieriger, unzugänglicher Bruder.

Kunst. Aber jenseits dieser Schwierigkeiten hatte er viele ungewöhnliche Begabungen: schon als kleiner Junge hatte Jürgen ein Talent im Zeichnen und Malen und eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit. In seiner Zeit als Schüler auf dem Gymnasium in Petershagen hat er dann den Künstler und Kunstlehrer Benno Kersting kennengelernt, der eine der ersten wichtigen Vaterfiguren seines Lebens wurde. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der er immer irgendwelche „Werke” in Arbeit hatte, die mich als Kind sehr beeindruckt haben.  Später hat er dann oft Kollagen gemacht. Benno Kersting hat ihn offenbar in seinen Versuchen unterstützt und kurz gab es dann auch die Idee, dass er Kunst studieren könnte – eine Idee, die allerdings bei unseren Eltern keinen Anklang fand. Stattdessen begann Jürgen, in Bielefeld Soziologie zu studieren, wechselte dann aber von dieser ebenfalls brotlosen Kunst zum Lehramtsstudiengang in Germanistik und Anglistik.

Literaturstudium. Der brachte ihm eine neue Vaterfigur, den charismatischen Wegbereiter in der Literaturkritik, Jörg Drews, der in Bielefeld lehrte. Drews hat vor allem Arno Schmidt, James Joyce und Samuel Beckett in die deutsche Literaturdiskussion gebracht, sich aber auch mit vielen anderen Autoren der Nachkriegsliteratur beschäftigt. Jürgen ist ihm darin gefolgt, den zu der Zeit kaum bekannten Arno Schmidt unter die Lupe zu nehmen. Dies waren wichtige und prägende Jahre für ihn. Am Ende dieser Zeit entstand seine Staatsexamensarbeit ‘Zum literarischen Unsinn: Über Lewis Carrolls Alice in Wonderland’

Lewis Carroll. Der Geist von Lewis Carroll hat ihn von da an immer begleitet in seinen Versuchen, Absurdes zu sehen und zu benennen, und manchen alltäglichen Unsinn genauer zu betrachten und zu verstehen – wenn man Unsinn denn verstehen kann. Aber das ist eben die Herausforderung. In Lewis Carrolls Worten: “Imagination is the only weapon in the war with reality”.

Die Alice-Bücher haben ihm viel bedeutet in ihrer Vielschichtigkeit, ihrer Bilderwelt, und ihren absurden Fantasien. Die Idee, in eine Welt zu fallen, in der Schachfiguren regieren und Spielkarten zum Leben kommen, ist beinahe wie eine Metapher für Jürgens eigene Begeisterung für Schach und Kartenspiele, die bis zuletzt sein Leben beherrscht hat. Er spielte im Mindener Schachclub, gewann einmal die Stadtmeisterschaft, und war oft hoch platziert. Auch in seinem langen Berufsleben als Lehrer am Ratsgymnasium hatte das Schachspiel eine Rolle. Dort hat er eine Schach AG ins Leben gerufen und geleitet. Den Schülern Schach beizubringen hat ihm viel Spaß gemacht. Aber auch Literatur mit seinen Schülern zu erkunden war wichtig. Auf ein paar Fotos aus dem Klassenzimmer sieht man ihn wie er Heinrich Manns Professor Unrat mit einer Klasse gelesen hat – und die Bilder sehen jedenfalls so aus als wäre er ganz in seinem Element und auf eine Art fröhlich, wie ich ihn selten erlebt habe.

Reisen. Und auch die andere Leidenschaft seines Lebens, das Reisen, hat in Alices Wanderungen durch fremde Gegenden und ihren Begegnungen mit den erstaunlichsten Gestalten ein wunderbares Bild. Jürgen ist in vielen Gegenden der Welt gewesen. Es begann in den 70iger Jahren mit Reisen in die Länder des damaligen Jugoslawiens, und später dann in beinahe alle Ecken der Welt. Seine Reisen nach China und in andere Länder Asiens haben ihn vielleicht am meisten beeindruckt – Jürgen war zwar nicht sehr gesprächig, aber davon hat er doch manchmal erzählt. Ich glaube, die Reisen waren eine Art Gegenwelt zu seinem manchmal verschlossenen und zurückgezogenen Alltag.

Schiffsreisen. Als er älter wurde, hat er Schiffsreisen entdeckt und ist beinahe systematisch die europäischen Flüsse entlang geschippert. Diese Begeisterung habe ich nicht so richtig verstanden, aber immerhin hat er versucht mir zu erklären, dass Städte und Landschaften ganz anders aussehen, wenn man sie vom Schiff aus betrachtet. Und damit hatte er ja nun sicherlich recht.

Die Pandemie. Mir ist erst spät, zu spät, klar geworden, dass die Pandemie eine schlimme Zeit für Jürgen gewesen sein muss – da kam so vieles zu einem Ende: er war nun im Ruhestand; Tennis, Schach und Karten Spielen und auch das Reisen waren kaum noch möglich. Und dazu kam, dass Jürgen immer einer digitaler Luddite war – jemand, der Computer und Smartphones ablehnte und sie deshalb auch nicht benützte. Für uns alle war das wahrscheinlich keine leichte Zeit, aber immerhin gab es Möglichkeiten, über Zoom, Skype und Whatsapp eine Art soziales Leben aufrecht zu erhalten. Jürgen hatte das nicht und am Telefon war, wie immer, nicht viel aus ihm herauszukriegen. Als ich ihn nach der Pandemie wiedersah, hatte er sich unglaublich verändert. Wie das so schnell geschehen konnte, ist mir immer noch ein Rätsel. Die letzte Zeit war schwer, aber er hat sich auch niemandem mehr geöffnet.

Wusste nicht so recht, wie. Jürgen war jemand, auf den man sich verlassen konnte, und der bereit war zu helfen und für andere da zu sein, wenn er auch oft nicht zu wissen schien, was er mit anderen anfangen könnte und sich selten sicher war, dass er erwünscht war. Als ich ein Kind war, hat er mir manchmal geholfen, wenn ich in einer schwierigen Situation war, aber oft auf eine Art, die deutlich machte, dass er zwar sah, dass seine Unterstützung wichtig war, aber nicht so recht wußte, worin sie denn eigentlich bestehen könnte. Um noch einmal Lewis Carrolls weise Bemerkungen zu zitieren: „One of the hardest things in the world is to convey a meaning accurately from one mind to another.”

Alice: “She means well, but she can’t help saying foolish things, as a general rule.”

Verpasste Gelegenheiten. Es scheint mir, als hätte in seinem Leben vieles anders sein können, als es gewesen ist, und als hätte ihn immer etwas zurückgehalten: zurückgehalten, sich anderen anzuvertrauen; zurückgehalten, sein Leben zu teilen; zurückgehalten, sich selbst und anderen gerade und umstandslos zu begegnen. Und was ihn zurückgehalten hat, war oft wohl eine tiefe Angst.

Es gab in seinem Leben viele Möglichkeiten, die er nicht ergriffen hat. Einige davon habe ich ja schon beschrieben. Dass es verpasste Möglichkeiten gibt, gilt natürlich für jeden von uns, aber für Jürgen vielleicht in besonderem Maße.

Früher Tod, aber immerhin auf seine Art. Es ist traurig, dass Jürgen so früh gestorben ist. Aber es ist immerhin gut zu wissen, dass ihm damit erspart geblieben ist, was er immer am meisten gefürchtet hat: Krankenhäuser, Heime und andere institutionelle Hilfe. Ich will damit nichts Schlechtes über diese Einrichtungen sagen. Aber für Jürgen waren sie vielleicht wirklich nicht das Richtige. Bis zum Schluss hat er seine Unabhängigkeit entschlossen und grimmig verteidigt. Dass ihm das gelungen ist, verlangt Achtung und Anerkennung.

Ohne Religion. Für religiöse Menschen ist der Tod der Übergang des Toten in ein Leben nach dem Tod. Ohne Religion betrifft der Tod eines Menschen vor allem die, die weiterleben: die mit dem Verlust umgehen müssen und sich darüber klar werden, was das Fehlen einer Person für sie bedeutet. Mir ist diese Trauerfeier wichtig, weil sie mir dabei hilft. Jürgen war nicht religiös und ich bin es auch nicht. Das immerhin haben wir gemeinsam.

 

März 2024